Bruchpunkte meinen Bestehendes, das bricht: Aushöhlung, Ermüdung, Abnutzung und große Druckeinwirkung von außen sind oft die Gründe dafür. Bruchpunkte sind aber auch jene magischen Momente, in denen man zu neuen Punkten am Horizont aufbricht.
Die folgende Auswahl von vier Konzerten des Zyklus 22/23 steht für diesen Aufbruch.
Procession – Zyklus 21/22
Index
Title
Authors
Category
Release date
1
Atem – Untertitel
CD
2
Coda Xenakis 100 – Untertitel
CD
3
FERMATE – Sarah Nemtsov und Michael Pelzel im Gespräch mit Peter Paul Kainrath – Untertitel
Film
4
Geschöpftes Licht – Untertitel
CD
5
FERMATE – Chaya Czernowin im Gespräch mit Victoria Coeln – Untertitel
Film
6
Himmel – Untertitel
CD
7
FERMATE – Mauricio Sotelo und Philippe Manoury im Gespräch mit Paul M. Zulehner – Untertitel
Film
1
Atem
– Untertitel
2
Coda Xenakis 100
– Untertitel
3
FERMATE – Sarah Nemtsov und Michael Pelzel im Gespräch mit Peter Paul Kainrath
– Untertitel
4
Geschöpftes Licht
– Untertitel
5
FERMATE – Chaya Czernowin im Gespräch mit Victoria Coeln
– Untertitel
6
Himmel
– Untertitel
7
FERMATE – Mauricio Sotelo und Philippe Manoury im Gespräch mit Paul M. Zulehner
– Untertitel
Atem
«Ses souffles – son corps – son jour » („Sein Atem – sein Körper – sein Tag“). Mit diesen enigmatischen Worten von Arthur Rimbaud blickt das gesamte Ensemble in einen stillen Abgrund aus dem Franck Bedrossians neue Klänge emporschimmern. Die österreichischen Erstaufführungen von Beat Furrers Klarinettenkonzert mit Solist Bernhard Zachhuber und Malin Bångs blooming brume komplettierten das Programm.
25.10.2022, Wiener Konzerthaus, Mozart-Saal
Werkeinführung
In Le lieu et la formule (2019) verbinden sich Franck Bedrossians Vorlieben für klanglichen Exzess und Literatur. Die Textgrundlage des Ensemblestücks bilden acht Prosagedichte aus Arthur Rimbauds Sammlung Illuminations. In den ersten Takten wird eine gewisse klangliche Instabilität etabliert: Die auf und ab schwankenden ‚Möwenschrei‘-Glissandi werden von einem mit dem Handballen angeschlagenen Klaviereinwurf durchbohrt und die Instrumentalist:innen beginnen, die Rimbaud’sche Lyrik vorzutragen. Allerdings: Jede Stimme setzt an einem je anderen Punkt der Textvorlage an, sodass unterschiedliche Fragmente übereinandergeschichtet werden und ein unübersichtliches Gewimmel an Worten und Silben erklingt. Episodisch reihen sich in Le lieu et la formule unterschiedliche musikalisch-klangliche Charaktere aneinander: Bedrossian orientiert sich an den unterschiedlichen Städten, die Rimbaud während seiner Reisen quer durch Europa und Afrika besucht hat, um in seinem Stück den „instrumentalen Raum“, die „Artikulation“ und „die Wiederholung bestimmter Situationen“ zu gestalten. Es gibt zwar Ruhepole inmitten der turbulenten Klangreise, doch diese versprühen eine beklemmende, fast spukende Atmosphäre. Geisterhaft verarbeitet Bedrossian auch die Lyrik Rimbauds, die über den Verlauf des Stücks allmählich „aus der Klangmaterie hervortritt“ und sich zu „verständlichen Wörtern“ formiert: Die letzten Zeilen des Gedichts „Génie“ werden von den Musiker:innen des Klangforum Wien klar artikuliert und unisono skandiert.
Malin Bång versteht ihr kompositorisches Schaffen als „Erforschung von Bewegung und Energie“. Ihrem Stück blooming brume (2020) liegt die Erinnerung an den Klang Sävedalens zugrunde, wo die Komponistin ihre Kindheit verbrachte. Das „braune Reihenhaus“, in dem sie lebte, war „nahe an der Autobahn und den Bahngleisen“; in der Nähe gab es auch „eine Eisfabrik und eine Müllhalle“, erinnert sich Bång: „This counterpoint of continuous waves of noise in the distance constituted our version of silence.“ Die Musiker:innen des Klangforum Wien positionieren sich zunächst inmitten des Auditoriums, allesamt ausgestattet mit einer Ocean Drum. Durch das Neigen der Trommel bewegen sich kleine Steinchen am Fell und erzeugen ein sanftes Rauschen, ähnlich dem Aufschlagen der Wellen an einer Meeresküste. Inmitten dieser anfänglichen Geräuschkulisse bewegen sich die Musiker:innen langsam durch den Raum; in ein Megaphon wird ein Text in der Räubersprache aus Astrid Lindgrens „Kalle Blomquist – Meisterdetektiv“ geflüstert. Auf der Bühne angekommen, halten die Musiker:innen das Rauschen nach und nach an ihren angestammten Instrumenten aufrecht. Aus der ‚rauschenden Stille‘ erheben sich zunehmend greifbare Motive und Texte: Über Kassettenspieler eingespielte Kinderstimmen erzählen die Geschichten von Jeanne d’Arc und Martin Luther. Zudem erklingen Zitate aus Wilhelm Peterson-Bergers Klavierstück „Sommersång“ vom Band sowie aus Debussys „La cathedrale engloutie“ und aus Verdis La Traviata-Ouvertüre in Klavier bzw. Violine und Viola. So lädt Malin Bång dazu ein, ihre Kindheit in Schweden hörend nachzuvollziehen und womöglich auch dazu, unsere Ohren vermehrt für unsere eigene klangliche Umwelt zu sensibilisieren
„Flüsternd“ und beinahe „tonlos“ setzt die Soloklarinette in Beat FurrersKlarinettenkonzert (2019) mit einem rhythmisch komplexen Pattern in äußerst engem Ambitus ein. Klanglich mag man in den ersten Takten mitunter an jenes Sujet erinnert werden, das Furrer immer wieder beschäftigt, prominent etwa im Musiktheater Wüstenbuch (2009): den Klang der gesprochenen Sprache. Das Herzstück der Komposition bildet die „Linie der Klarinette“, „die Erscheinung dieses Soloinstruments“. Nach den flüsternd-tonlosen Eröffnungstakten entwickelt sich die Linie in Richtung eines Zickzack-Musters: Ein Motiv aus 14 chromatisch absteigenden 32tel-Quintolen wird eingeführt und mit jedem Erscheinen je einen Halbton aufwärts transponiert. Derartige komplexe, dabei jedoch außerordentlich fassbare Momente prägen das Stück: Es folgt ein rhythmisches Pattern über den Einzelton as, an das sich eine Variation der zuvor gehörten 32tel-Quintolen anschließt. Das Ensembletutti reagiert auf die Klarinette imitierend, färbend oder auch konterkarierend, bis sich die konzertierenden Instrumente am Ende des rund zwanzigminütigen Klangprozesses schließlich gänzlich an die Linie des Soloinstruments anschmiegen: „Alles wird Teil dieser Linie.“
Text: Jakob Maria Schermann
Coda Xenakis 100
Iannis Xenakis (in Erinnerung an seinen 100. Geburtstag) war ein Klangarchitekt, der um die Wichtigkeit massiv-archaischer Klanggewalt wusste. Sarah Nemtsov nützt Verdichtung, um Krieg und Terror einen Klang abzutrotzen. Michael Pelzel ist schlicht überwältigt von der Urgewalt xenakisscher Planeten.
Das letzte Zykluskonzert des Klangforum Wien des aktuellen Jahres steht im Zeichen von Iannis Xenakis, der am 29. Mai 1922 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Wird dessen Musik oft mit der rohen Urgewalt überbordender Klangmassen assoziiert, so erweist sich das Stück unter dem der Fantasie Xenakis‘ entsprungenen Titel Okho (1989) auf den ersten Blick als außerordentlich reduziert: Die drei Perkussionisten legen ihr angestammtes Sammelsurium an Schlaginstrumenten beiseite und konzentrieren sich auf je eine einzige Trommel: die Djembé. Das Stück beginnt mit einem wiederholten Motiv aus fünf Achtelpulsen, von Xenakis in seinen Skizzen zu Okho onomatopoetisch als „Tititi tata“ bezeichnet, bevor der rhythmisch-metrische Verlauf an Komplexität hinzugewinnt. Einige Abschnitte des Formverlaufs generierte Xenakis mithilfe seines algorithmischen Kompositionsprogramms GENDYN, ein anderes Mal basieren Patterns auf der Fibonacci-Folge. Okho entstand im Auftrag des Festival d’automne à Paris anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Französischen Revolution. Ob Xenakis mit der Wahl dreier Djemben bewusst auf die Kolonialvergangenheit Frankreichs in (unter anderem) Westafrika verweisen wollte, ist in der Forschung mangels konkreter Indizien zwar umstritten, eröffnet jedoch womöglich eine weitere Hörart des Stücks.
„May I be sacrificed“ – mit diesen Worten beginnt die erste Arie in Sarah Nemtsovs zweistündiger Oper Sacrifice (2016), die von der Komponistin in eine Suite von rund 30 Minuten umgearbeitet und auf den Klangkörper des Klangforum Wien maßgeschneidert wurde. Das Libretto basiert in Grundzügen auf dem realen Fall einer Jugendlichen aus Sachsen-Anhalt, die gemeinsam mit ihrer 18-jährigen Freundin nach Syrien reiste, um sich dem IS anzuschließen. Die eingangs zitierte Zeile entstammt einem Taliban-Gedicht, das Librettist Dirk Laucke im Internet gefunden hatte; die Arie „May I be“ bildet zudem das zweite der sechs „Klangbilder“ (neben „Motoren“, „Klage“, „dusty desert“, „Brocken“ und „alive“), in die sich die Suite gliedert. Markus Deuter (Oboe) und Lorelei Dowling (Fagott) bedienen zusätzlich Synthesizer im „Taschenformat: Sinnbild für Smartphones und Social Media“, wie Nemtsov erläutert. Ebenso komplex und schnelllebig wie unsere Gegenwart ist auch die Musik in Sacrifice, die zwischen geräuschhaften, zarten, düsteren oder auch popmusikalischen Klängen changiert. Eine Solist:innengruppe aus Keyboard, Schlagzeug, Klavier, verzerrter Harfe und E-Gitarre bzw. E-Bass fungiert dabei als teils eigenständige Band innerhalb des Ensembles.
Pavlopetri (2022) aus der Feder des Schweizer Komponisten Michael Pelzel bildet gewissermaßen die Coda zur „Coda Xenakis 100“. Das für das Klangforum komponierte Stück entstand „in memoriam Iannis Xenakis“ und greift in freier Assoziation Momente und Ideen aus dessen Kompositionen auf, etwa aus Thalleïn für 14 Musiker:innen (1984), das auch beim Premierenkonzert des Ensemblestücks im Zuge der diesjährigen Ruhr-Triennale zu hören war. An einem zarten, teils im sechsfachen piano verweilenden Halteton g im Violoncello entzünden sich rasch blockhafte, massive Klangprozesse. Im Programmtext zur Uraufführung von Pavlopetri findet Andri Hardmeier treffende Worte für das Verhältnis zwischen den Musiken von Pelzel und Xenakis: „Wie die Mauern von Pavlopetri nur verschwommen durch den Wasserspiegel zu erkennen sind, so lässt Pelzel den heterogenen Ideenkosmos von Xenakis erahnen, der seiner Komposition zugrunde liegt.“ Die versunkene, frühbronzezeitliche Stadt Pavlopetri im südlichen Lakonien kann somit auch als Metapher für Pelzels kreativen Umgang mit dem Werk von Xenakis gelesen werden.
Text: Jakob Maria Schermann
FERMATE – Sarah Nemtsov und Michael Pelzel
Die Komponist:innen Sarah Nemtsov und Michael Pelzel im Gespräch mit Peter Paul Kainrath anlässlich des Konzerts „Coda Xenakis 100“ zum Ausklang des Jubiläumsjahres von Iannis Xenakis, der 2022 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte.
Geschöpftes Licht
Nach der US-Premiere im Sanders Theater der Harvard University (Cambridge, MA) im Februar 2022 folgte die österreichische Erstaufführung von The Fabrication of Light im Zyklus 22/23. Chaya Czernowin, die 2022 mit dem Deutschen Musikautor:innenpreis ausgezeichnet wurde, entfaltet in diesem Stück Spiralen des Lichts. Der Klangkörper des Ensembles fungiert als Lichtmaschine und die Zuhörer:innen werden auf eine Entdeckungsreise technologischer, metaphorischer und existenzieller Facetten des Lichts mitgenommen.
Wir sind stets umgeben von Lichtmaschinen – von Glühbirnen und LED-Lichtern, Leuchtreklamen und Feuerzeugen, den Displays von Smartphones und Tablets und vielem mehr. Die Komponistin Chaya Czernowin widmet sich in ihrem knapp einstündigen Ensemblewerk The Fabrication of Light (2020) jenen Prozessen, die Licht – in all seinen technologischen, metaphorischen wie auch existenziellen Facetten – generieren und an unsere Sinne herantragen. Im Februar 2022 hatte das Klangforum Wien die US-Premiere des Stücks in den Räumlichkeiten der altehrwürdigen Harvard University, wo Czernowin seit 2009 eine Professur innehat, bestritten und brachte es infolge am 13. März in das Wiener Konzerthaus.
Nimmt man den Titel ernst, so scheint das Stück ein klares Ziel anzusteuern – doch der Weg zum Licht in The Fabrication of Light ist gewunden und vertrackt, er führt durch vier „Spirals“, in die sich die Komposition großformal aufteilt. Die ersten drei dieser Spiralen beginnen mit einer „Elegy“, für Czernowin ein „Klagelied an die Ausbreitung der Dunkelheit“. In der ersten Elegie wird zum Teil bereits jenes klangliche Terrain abgesteckt, das im weiteren Verlauf von The Fabrication of Light erkundet wird: Die Streich- wie auch Blasinstrumente wechseln unter anderem zwischen statisch-liegenden Klangflächen und Glissandi, die teils in regelmäßigen Bögen auf- und abgleiten, teils aber auch verschlungene, unruhige und sprunghafte Gesten nachzeichnen. Zudem deutet sich die zentrale Rolle der zweifach besetzten Perkussion an, die im Laufe der Komposition immer wieder die musikalische Bewegung vorantreibt, deutlich etwa in der zweiten Elegie, wo ein Klangkontinuum von zwei Trommelwirbeln angeleitet wird, die sich in je unterschiedlichen Tempi verlangsamen und ausfransen. Auf die Elegien folgt in den ersten beiden Spiralen je eine „Machine of the highs“ und eine „Machine of the lows“, deren Titel jeweils auch auf die präsentesten Tonregister der Abschnitte anzudeuten scheinen und zum Teil stark kontrastierende Ideen aufgreifen: Am Ende der ersten Spirale („First machine of the lows“) maskiert ein überbordendes, am Keyboard generiertes weißes Rauschen die zarten Instrumentalklänge, während zu Beginn der „Second machine of the lows“ die Musiker:innen durch einen aus Karton geformten Kegel bzw. Trichter über Erinnerungen an die je eigene Kindheit sprechen.
Die letzten beiden Spiralen unterscheiden sich von den vorhergehenden nicht nur in ihrer deutlich kürzeren Dauer, sondern auch in ihrer formalen Struktur: Auf die Elegie folgen in „Spiral III“ vier kurze Teile, die Czernowin mit „Activation and response“ überschreibt sowie das die Spirale beschließende „Highs and lows“. Die vierte, nur wenige Minuten dauernde Spirale scheint schließlich das Versprechen des Stücktitels einzulösen: Vier „Fabrication“-Teile münden letztlich in das ‚Erscheinen des Lichts‘, dem jedoch dessen sofortiges ‚Verschwinden‘ folgt. Diesem blitzartigen Aufscheinen des Lichts steht somit eine knapp einstündige, musikalisch ausgestaltete „aktive Mediation“ bzw. ein „mühevoller Prozess“ entgegen. In The Fabrication of Light geht es Chaya Czernowin entsprechend weniger um das Licht an sich, als um die intensive Arbeit, die zu dessen oft nur flüchtiger Präsenz führt, oder, in den Worten der Komponistin: „Dieses Stück ist kein schönes, fertiges Produkt. Es ist der Prozess der Schöpfung, der sich entfaltet, während wir hören.“
Text: Jakob Maria Schermann
FERMATE FERMATE – Chaya Czernowin im Gespräch mit Victoria Coeln
Anlässlich der österreichischen Erstaufführung von "The Fabrication of Light" traf Chaya Czernowin in der Gesprächsreihe FERMATE auf Victoria Coeln, die sich in ihren künstlerischen Arbeiten zentral mit dem Phänomen Licht auseinandersetzt, wie etwa auch in der permanenten Lichtinstallation "Chromotopia Konzerthaus", welche seit 2007 die Fassade des Wiener Konzerthauses in lichte Bewegung versetzt.
Himmel
Das Abschlusskonzert des Zyklus 22/23: Philippe Manoury vermisst die Extremspannungen zwischen Himmel und Hölle, Lisa Streich erkundet die Weiten des römischen Himmels und Mauricio Sotelo versteht sein von Giordano Bruno inspiriertes Werk als tönende Architektur.
In HIMMEL (2021) verbindet Lisa Streich Erfahrungen aus zwei unterschiedlichen Etappen ihrer Biographie: Zum einen geht die Idee für das Stück auf ihre Zeit in Rom von 2016 bis 2017 zurück – dort, so die Komponistin, „ist der Himmel immer ein Gemälde“. Die Zeichnungen, Schattierungen und Farbnuancen bildeten so den Ausgangspunkt für eine Komposition, in der Streich „nur mit Pinselstrichen“ arbeitet, konkreter „mit Tönen, die zusammen Farben ergeben“. Hier greift sie insbesondere auf spektrale Akkorde zurück, die einerseits auf eine große Bandbreite an mikrotonalen Spannungen rekurrieren, andererseits aber auch Anklänge an die tonale Tradition nicht scheuen. Zum anderen hat Streich ihrem Stück Eindrücke des ersten Pandemiejahrs 2020 eingeschrieben: Der Himmel steht insofern auch für eine „andere Welt“, die sich öffnet, sobald Teile der gewohnten Welt wegfallen. So lassen sich in HIMMEL immer wieder Brüche vernehmen, die ihrerseits Schlaglichter auf das Andere, Neue werfen. Eine tragende Rolle kommt in diesem Prozess nicht zuletzt der Harfe zu, deren Saiten je einen Viertelton tiefer gestimmt sind und die im Duo mit dem Klavier fast konzertierend mit dem übrigen Ensemble in einen Dialog tritt.
Ebenso wie Streichs HIMMEL, weist das erstmals in Wien zu hörende De imaginum, signorum et idearum compositione II (2021) von Mauricio Sotelo nach Italien: Spätestens seit den 1990er Jahren (womöglich auch angestoßen durch seine vorangegangene Begegnung mit Luigi Nono) beschäftigt sich der spanische Komponist in seinem Werk mit dem Leben und Denken von Giordano Bruno, etwa im ersten Teil von De imaginum... (1994/1996), in De magia, einem Trio für Saxophon, Schlagzeug und Klavier (1995) sowie in der Oper Bruno o il Teatro della Memoria (2017/2020), deren Libretto in Zusammenarbeit mit dem Philosophen und ehemaligen Bürgermeister von Venedig Massimo Cacciari entstanden ist. Die Erinnerung – memoria – ist auch in De imaginum... II eine zentrale Idee: „Die Struktur“, so Sotelo, „ist aufgebaut auf den Angaben Brunos für den Aufriss des locus memoriae – dem Ort der Erinnerung – eine einzigartige gespenstische Architektur, die aus und in der Leere entsteht.“ Im Geiste Brunos erspürt das Stück, das dem Klangforum Wien und seinem Intendanten gewidmet ist, die Natur des musikalischen Klangs: Sotelo geht es um nicht weniger als „tönende Architektur“, eine „Entfaltung der Klangqualität in ungezählte Intensitäts-, Gewichts- und Helligkeitsgrade“ und den „Klang als universalen Ort und universale Materie, als ausgedehnte Substanz und als monströse, unendliche Leere“.
Mit seinem letzten Programmpunkt für die Konzerthaus-Saison 2022/23 reiste das Klangforum Wien zu jenem Moment zurück, an dem sich der Himmel von der Hölle schied: Ab Mitte der 1980er Jahre experimentierte Philippe Manoury in seinem Zyklus „Sonus ex machina“ mit der Gegenüberstellung von traditionellen, akustischen Instrumenten und in Echtzeit bearbeiteten bzw. synthetisierten Klängen. Dazu zählt auch La Partition du ciel et de l’enfer (1989), das Ideen der beiden vorangegangenen Teile aus Manourys Zyklus, Jupiter (1986) und Pluton (1987), aufgreift und in neuer Form verbindet. Die beiden Himmelskörper repräsentieren in La Partition... zwei widerstrebende klangliche Tendenzen, wobei Pluto „kontinuierlich zwischen Geräusch und stark modulierten Timbres oszilliert“, wohingegen Jupiter näher an klaren harmonischen Strukturen verortet ist. Immer wieder werden Instrumentalklänge in Echtzeit gesampelt, klanglich manipuliert und via Lautsprecher in den Konzertraum zurückgespielt. So zeichnet sich das 45-minütige, in sechs Abschnitte untergliederte Stück durch die Konfrontation gegensätzlicher Welten (Geräusch/Klang, Akustik/Elektronik bzw. Pluto/Jupiter, Himmel/Hölle) aus, die in je unterschiedlichen Konstellationen stattfindet. Die elektronische Implementierung wurde für den Saisonabschluss von einem Team rund um David Pirrò (Institut für Elektronische Musik und Akustik, Graz) und Miller Puckette, der mit Manoury bereits die ‚originale‘ live-elektronische Umsetzung des Stücks am Pariser IRCAM konzipiert hatte, überarbeitet und auf den technischen Stand der Gegenwart gebracht.
Text: Jakob Maria Schermann
FERMATE – Mauricio Sotelo und Philippe Manoury im Gespräch mit Paul M. Zulehner
„Himmel“, das letzte Zykluskonzert der Saison 22/23, war zugleich auch die letzte Ausgabe der Gesprächsreihe FERMATE. Dabei traf der Theologe Prof. Paul M. Zulehner auf die beiden Komponisten Mauricio Sotelo und Philippe Manoury. Gemeinsam befragten sie die „Himmelskonstellationen“ der Musik. Die Kraft des menschlichen Denkens in seinem Verhältnis zum Universum, das Widerspiel von kontemplativer und aktiver Musik sowie die einzigartige Erfahrung des Hörens wie auch das Hoffnungsvolle in der Musik bewegten die Diskutanten.