Die nicht bewiesene Legende besagt: Gustav Mahler hatte die 3. Sinfonie von Charles Ives als Partitur auf seiner letzten Atlantik- überquerung Richtung Wien im Gepäck. Nicht nur Thomas Hampson begreift beide Meister als Zeugen eines fundamentalen Umbruchprozesses, der wohl seine Entsprechung in unserer unmittelbaren Jetztzeit findet.
29.6.2022, Wiener Konzerthaus, Mozart-Saal
Werkeinführung
Jakob Maria Schermann
In jener Umbruchszeit, als die man die Jahrzehnte um 1900 mit Blick auf die westliche Kunstmusik bezeichnen könnte, spielt das Lied eine zentrale Rolle: Schönberg, Webern und Berg etwa wagten Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere in ihren Liedkompositionen ihre ersten Schritte in die freie Atonalität. Einen ebenso wichtigen Stellenwert hat die Gattung bei Gustav Mahler und Charles Ives – bei ersterem unter anderem ersichtlich an der engen kompositorischen Beziehung, in der dessen (Orchester-)Lieder und Symphonien zueinanderstehen. Und auch Ives veröffentlichte mehrere Liedersammlungen, deren umfangreichste 1922 unter dem schlichten Titel 114 Songs erschien. Lieder von Mahler und Ives in neuen, passgenau auf das Klangforum Wien zugeschnittenen Arrangements bilden den einen Block des letzten Zykluskonzerts 2021/22 im Wiener Konzerthaus.
In einer Neuinstrumentation von Thierry Tidrow werden zwei Stücke aus Mahlers Des Knaben Wunderhorn für Singstimme und Orchester (1892–98 komponiert) aufgeführt: Das irdische Leben, das die Fatalität des Weltlaufs zum Ausdruck bringt und von Mahler in einem frühen, letztlich jedoch verworfenen Entwurf seiner 4. Symphonie als zweiter Satz vorgesehen wurde, und das als (scheiternder) Dialog strukturierte Lied des Verfolgten im Turm. Von Tidrow, der übrigens 2016 in Die alten, bösen Lieder selbst bereits die, seiner Ansicht nach, „makabersten“ Texte aus Achim von Armins und Clemens Bretanos Wunderhorn-Sammlung vertonte, stehen zudem die Fassungen dreier Lieder von Ives auf dem Programm – Majority (1916 für Chor und Orchester, 1921 arrangiert für Singstimme und Klavier), Immortality (1921) und Feldeinsamkeit (ca. 1897–1898).
Einen kreativen Zugang pflegt Tidrows Landsmann Trevor Grahl in seinen fünf Ives- Arrangements: In Sunrise (1926) lässt er die Holzblasinstrumente die „unsichtbare Rolle der Sonne“ spielen, indem er sie abseits der Bühne platziert – ein Verfahren, auf das Charles Ives ebenfalls in mehreren seiner Kompositionen zurückgreift –, und in Lincoln, the Great Commoner (ca. 1919–1920) integriert Grahl Vokalaktionen des Ensembles. Mahlers Wunderhorn-Lied Der Schildwache Nachtlied wiederum wird von einer instrumentalen Naturszenerie aus Taubengurren, Eulengeheul und Froschquaken umrahmt. Die Gesangspartien wird der Bariton Thomas Hampson übernehmen, der etwa bereits 1986 und 1987 die Uraufführungen von Luciano Berios Arrangements früher Mahler-Lieder bestritt und zudem Mitherausgeber von Mahlers Klavierfassungen der Wunderhorn-Gesänge im Rahmen der kritischen Gesamtausgabe ist.
Weiters stehen am 29. Juni die Uraufführungen dreier Instrumentalstücke an, die vom Klangforum Wien in Auftrag gegeben wurden und in ihren offenen Bezügen zur Musik von Charles Ives und/oder Gustav Mahler miteinander verbunden sind. Die US-Amerikanerin Sky Macklay, die neben ihrer Arbeit als Komponistin etwa auch an Klanginstallationen arbeitet und als Oboistin auftritt, hat mit Shepard‘s March eine sinfonische Dichtung im Stile Ives – An Ivesean Shepard Tone Poem – komponiert. Das Stück setzt mit „sinustonartig“ schwebenden Klängen eines Harmoniums an, die erst durch Einwürfe von Klavier und Harfe konterkariert und nach und nach vom übrigen Ensemble ergänzt werden. Es schält sich ein Thema heraus, das durch alle Stimmen gereicht wird und über den Stückverlauf hinweg unterschiedliche Metamorphosen durchläuft.
Unfeeling von Christopher Trapani wiederum ist eine Hommage an die Musik Gustav Mahlers. Eine langgezogene Englischhorn-Melodie wird exponiert, verschmilzt zunehmend mit heterophonen Doppelungen und wird von geräuschhaften Harmonium-Sounds unterbrochen. Ebenso brüchig präsentiert sich die etwas später eingeführte zweite Stimme – sie ist, in den Worten des amerikanisch-italienischen Komponisten, „krächzend, guttural“ und „voller Stottern“. So steuert die Musik immer wieder transzendentale Höhepunkte à la Mahler an (Trapani nennt etwa das Ende von Das Lied von der Erde), ohne sie jedoch zu erreichen – Unfeeling verweilt im „flachen und verworrenen Bereich des Grübelns“.
Patricia Alessandrini begibt sich schließlich anhand einer kompositorischen „Lektüre“ des Rückert-Lieds Ich bin der Welt abhanden gekommen (1901) sowie von The Unanswered Question (1908, revidiert in den 1930er Jahren) auf die Suche nach Gemeinsamkeiten der Musiken von Mahler und Ives. Expressive Verbindungspunkte, an die sie in Abhanden anknüpft, sieht Alessandrini in der distanzierten Räumlichkeit der Musik sowie in der Suspension musikalischer Zeit. Die aufsteigende große Sekund Mahlers, die sich jeglicher harmonischer Auflösung zu versperren scheint, trifft auf Ives’sche Cluster, die über den Verlauf von Abhanden jegliches musikalisches Material wie ein schwarzes Loch in sich einsaugen.